Riesige Seifenblasen wabern über den Köpfen und spiegeln sich in Tausenden erwartungsvoll glänzenden Augen wider. Die begehbare Granitskulptur Versunkene Mauer im Invalidenpark liegt da wie ein schiffbrüchiger Dampfer, als sei sie eine eigens für diesen Tag herbeigeschaffte Kulisse. Es ist die 15. Woche des Protests der Berliner Fridays-for-Future-Bewegung. Auf den bunten Schildern der jungen Aktivisten stehen Slogans wie “Make the world Greta again”. Einige halten Blumen in den Händen, als erwarteten sie einen Popstar.
Aber ist Greta Thunberg, die 16-jährige schwedische Schülerin, auf die hier alle warten, ein Popstar? War die Zeit des personalisierten Protests nicht eigentlich vorbei, die Zeit der Idole und der Gesichter, die eine ganze Bewegung tragen sollten?
Nur wenige Kilometer vom heutigen Demonstrationsort entfernt, auf der anderen Seite des Tiergartens, hielt Rudi Dutschke vor 50 Jahren seine berühmte Rede auf dem Vietnamkongress. Bis heute gilt er als Prototyp eines Revoltenführers, war geistiger Patron der Studentenbewegung, charismatischer Theoretiker und begnadeter Rhetoriker mit Suggestivkraft. Dutschke trug seinen berühmten Strickpullover, Greta ihre weiße Strickmütze. Doch da hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Dutschke hielt stundenlange Vorträge gespickt mit Hegel-Zitaten. Die Fridays-for-Future-Aktivisten heute reden, na klar, ganz anders.
Eloquent müssen sie nicht sein
Es treten an diesem Freitag Vertreter aus der Schweiz, Großbritannien, Frankreich und Belgien auf. Jugendliche, die noch vor kurzer Zeit auf Schulhöfen als “Öko” gemobbt worden wären. Sie lesen Reden von ihren Smartphones ab. Keineswegs eloquent. Manche stammeln. Andere vergessen, was sie sagen wollten. Aber sie werden gefeiert. Die Parolen sitzen und werden aus Abertausenden Kehlen erwidert. Es braucht schließlich keine großen Theorien wie damals bei Dutschke, es liegt ja alles offen da diesmal. 23.000 Wissenschaftler haben sich bisher hinter die Klimaproteste gestellt. Es ist beinahe, als könnte man die Experten aufatmen hören, dass nun endlich jemand gekommen ist, der all die Klimamodelle, all die Rechnungen und Warnungen, all die gut begründeten Weltkatastrophenszenarien mit kindlicher Sturheit vorträgt.
Als der Demonstrationszug sich formiert, lauert bereits eine Wand von Fotografen davor. Minutenlang fokussieren sie die erste Reihe. Und dann ist sie auf einmal da. Über dem Kopf hält sie das ikonische Schild, mit dem alles begann: “Skolstrejk för Klimatet” steht in großen handgeschriebenen Lettern darauf. Mit ihren geschätzt 1,50 Meter kann Thunberg kaum über das Fronttransparent schauen. Leise, fast widerwillig bewegen sich ihre Lippen im Rhythmus der skandierten Parolen.
Aura religiöser Erhabenheit
Vielleicht ist es die eingeschränkte Mimik, die sie so entrückt erscheinen lässt, ihr beinahe die Aura von religiöser Erhabenheit verleiht. Sie scheint das Gegenteil einer charismatischen Führungsfigur zu sein – und doch wurde aus ihrem spontanen Akt des zivilen Ungehorsams ein globales Phänomen. Allein an diesem Freitag folgten ihr 25.000 junge Menschen in Berlin, 300.000 in Deutschland.
Dieter Rucht vom Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) erkennt eine doppelte Bedeutung der 16-Jährigen für Fridays for Future: “Der Nährboden war da. Unter den jungen Menschen gab es schon länger eine große Affinität zu Umweltthemen. Thunberg hat gewissermaßen die Saat ausgebracht.” Sie ist eine Orientierungsgröße, eine Identifikationsfigur. In einer nicht repräsentativen Umfrage des IPB gaben immerhin 40 Prozent der Teilnehmer an, dass Thunberg ihr Interesse am Thema Klimawandel befördert hätte.
Viel stärker gewichtet Rucht jedoch die Spielregeln der Aufmerksamkeitsökonomie: “Medien brauchen Gesichter zu einem Protest.” Nicht umsonst bekommt Greta Thunberg an diesem Woche ausgerechnet den deutschen Film- und Fernsehpreis Goldene Kamera verliehen. Das amerikanischen Time Magazine hat sie jüngst in die Liste der 25 einflussreichsten Teenager des Jahres 2018 aufgenommen. Es scheint, als würden viele Ältere versuchen, den für sie potenziell bedrohlichen Protest auf die harmlose Geschichte eines jungen Mädchens zu reduzieren: Wem wir einen Preis geben, kann uns nicht mehr gefährlich werden.
Die Gefahr der Personalisierung
Es war übrigens Rudi Dutschke selbst, der in eindrücklichen Worten vor Personenkult warnte: “Die Übereinstimmung in der Reaktion der Presse auf das Attentat auf King, Kennedy und mich ist enthüllend. In der Vorstellung der Zuschauer und in den Denkkategorien der Illustratoren der Geschichte nimmt der charismatische Führer immer noch eine zentrale Stelle ein. Sie werden es aber lernen müssen, dass es uns im antiautoritären und sozialistischen Kampf nicht um einzelne ‘begnadete’ Gestalten geht.”
Nun geht es Thunberg nicht um den Sozialismus, aber der Mechanismus könnte der gleiche sein. Als sie sich vor wenigen Tagen unpräzise zum Thema Kernenergie äußerte, versuchten Kritiker dies als Beleg für die widersprüchliche Naivität der Fridays-for-Future-Bewegung auszulegen. Die Möglichkeit des Erfolgs oder Scheiterns des Protests scheint noch immer stark an die Person Thunberg gebunden zu sein. Darum warnt Forscher Rucht vor einer zu starken Fixierung auf die 16-jährige Schwedin: “Erfolgreiche Proteste werden heute von zahlreichen Akteuren getragen. Es gibt die Theoretiker, die Organisatoren, die Vermittler und die Strategen. Thunberg aber ist nur das Gesicht einer Bewegung.”
Wie beim Staatsbesuch
Auf dem Weg zum Brandenburger Tor stehen Scharen von Schaulustigen Spalier. Grundschüler rufen Thunbergs Namen, drängen sich durch, um einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen. Ein Auflauf wie bei einem Staatsbesuch. Abgeschirmt von Dutzenden untergehakten Ordnern, die Fans und Presse fernhalten.
Mit einer Stunde Verspätung betritt sie schließlich die Bühne der Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor. Die Hände in der Manteltasche verborgen. Tausende Smartphones schneiden ihre nur drei Minuten dauernde Ansprache mit, die phasenweise unter frenetischen Jubelschreien untergeht. “Wir wollen eine Zukunft, ist das zu viel verlangt?”, sagt sie. Ihre Rede ist einfach, formelhaft. Sie sagt nichts zur Atomkraft und auch sonst nichts, was sich missverstehen lässt.
Kämpferisch recken hinter ihr die Organisatoren der Fridays-for-Future-Bewegung die Fäuste in den Berliner Himmel. “Greta! Greta! Greta!” skandiert die Menge. Sie aber nickt nur freundlich, klatscht zaghaft in ihre Handschuhe. Mehr nicht.
Greta Thunbergs Rolle, das zeigt ihr kleiner Auftritt in Berlin, ist nicht komplex. Sie ist eine 16-Jährige, die die Dinge beharrlich und klar anspricht. Viele ihrer Fans, ob jung oder alt, scheinen sich genau danach zu sehnen: Klarheit und Konsequenz. Das reicht offenbar, um ein Idol zu sein.