In meinem Leben bin ich ein einziges Mal niedergeschlagen worden. Das ist schon lange her und geschah nicht etwa in Berlin-Kreuzberg nahe dem Kottbusser Tor, diesem gefährlichsten aller Orte, an dem ich seit vielen Jahren lebe. Es passierte im vergleichsweise beschaulichen Oberbayern.
Ich wohnte damals in einem kleinen Ort mit etwa zehntausend Einwohnern in der Nähe von München. Mit einem Freund hatte ich den Abend in einer Kneipe in der nächstgrößeren Ortschaft verbracht, wir waren gerade aus der S-Bahn gestiegen. Mit uns waren auch zwei weitere junge Männer angekommen, offenbar waren sie angetrunken und frustriert. “So ein Scheiß-Abend”, hörte ich den einen sagen.
Ein Schlag ins Gesicht
Wir liefen die Bahnhofstraße hinunter, als uns die beiden auf dem Fahrrad überholten. “Schau nicht so blöd!”, rief mir der eine zu. Sie fuhren noch etwa fünfzig Meter weiter, dann hielten sie an. Der eine stellte sein Fahrrad ab und kam uns entgegen. Als er bei uns angekommen war, schlug er mir ansatzlos ins Gesicht.
Es war Winter, ich setzte mich in den Schnee, und als ich wieder auf den Beinen war, war er schon wieder auf dem Weg zu seinem Fahrrad. Nicht etwa auf der Flucht, sondern ganz gemächlich, wie nach getaner Arbeit.
Als nach Weihnachten die Attacken auf Passanten am Bahnhof im ostbayerischen Amberg die Nachrichten beherrschten, musste ich wieder an den Angriff von damals denken: Am nächsten Tag hatte ich ein blaues Auge, auf der Polizeiwache wurde meine Anzeige gegen unbekannt routiniert aufgenommen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Beamten besonders beeindruckt oder auch nur halbwegs interessiert waren. Ob jemals ernsthaft ermittelt wurde, weiß ich nicht.

Der Bürgermeister unseres Ortes war dann auch nicht live im “heute journal”, überhaupt schaffte es der Vorfall nicht einmal als Randnotiz in die Lokalzeitung. Der Bundesinnenminister sah keinen Anlass für eine Gesetzesverschärfung. Auch sein bayerischer Amtskollege schwieg beharrlich. Der Täter wurde nie belangt, und selbst wenn, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, ihn abzuschieben. Warum auch: Ich habe ihn zwar nur kurz gesehen, aber es handelte sich eindeutig um einen Einheimischen.
In Angriffsbereitschaft
Einzelfälle sind kaum einmal gute Anlässe für grundsätzliche Maßnahmen, aber das wollte ich damals nicht so sehen. Der schnelle Schmerz geht bald vorbei, länger dauert es, die Grenzüberschreitung psychisch zu verarbeiten. Kurz nach dem Schlag ins Gesicht schrieb ich mich in einen Karate-Kurs ein. Lange bevor ich an einen blassgelben Gürtel auch nur denken konnte, ging ich bereits lauernd durch die Straßen. Sollte mir nur noch einmal einer dumm kommen.
Einige Zeit befand ich mich in latenter Angriffsbereitschaft, dann erkannte ich die Sinnlosigkeit dieses Zustands und ließ den Kampfsport wieder bleiben. Ich hatte mich beruhigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach bestreitet mein Angreifer heute als braver Familienvater ein eher gleichförmiges Dasein, dessen einzige Höhepunkte in gelegentlichen Alkoholexzessen bestehen. Ein ganz normales deutsches Leben also.
Eine abscheuliche Tat
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sprach nach den Angriffen von Amberg von einer “abscheulichen Tat”, und darum handelt es sich ja auch: Vier betrunkene Männer im Alter von 17 bis 19 Jahren prügelten wahllos auf Passanten ein. Sie verletzten zwölf Menschen. Zwei der mutmaßlichen Täter sind abgelehnte Asylbewerber, bei einem läuft das Verfahren noch. Bei dem Vierten – einem Minderjährigen – besteht Abschiebeverbot, das Herrmann nun gern widerrufen lassen würde. Einer macht gerade eine Ausbildung zum Koch.
“Die alkoholisierten Täter können in unserem Land kein Verständnis erwarten, sondern nur die volle Härte des Rechtsstaats”, sagte Herrmann. Wer will ihm da widersprechen: Wer grundlos andere schlägt, muss bestraft werden. Der Freistaat hat sich in solchen Dingen seit meiner eigenen unschönen Erfahrung offenbar einen ganz neuen Elan bei der Strafverfolgung verordnet.
Da gibt es viel zu tun. Die aktuellste polizeiliche Kriminalstatistik zählt für das Jahr 2017 in ganz Deutschland rund 40.000 erfasste Fälle von Gewaltkriminalität, bei denen die Täter alkoholisiert waren. Suff und damit zusammenhängende Gewalt sind ernste Probleme unserer Gesellschaft.
Unsere Sitten und Gebräuche
Aber hilft dagegen eine weitere Verschärfung der Asylgesetze? Müssen die Abschieberegeln wegen der Prügelei in Amberg noch einmal härter werden, wie es der Bundesinnenminister Horst Seehofer jetzt fordert? Löst er damit irgendein Problem? Oder anders gefragt: Handelt es sich bei den Tätern von Amberg um Integrationsverweigerer, denen die hiesigen Sitten auf ewig fremd bleiben werden, weshalb sie das Land schnellstmöglich verlassen müssen?
Wohl kaum. Ein prügelnder Teenager aus Afghanistan oder Iran, aus Ost- oder Oberbayern, ein besoffener Kochlehrling, der am Bahnhof herumhängt und Ärger sucht, verweigert sich keineswegs den eingeübten Gebräuchen unserer Gesellschaft.